Es mag ja sein, dass Sie sich mittlerweile an Mantraartige Wiederholungen des chinesischen Sprichworts »Mögest du in interessanten Zeiten leben« gewöhnt haben. Doch vielleicht kann es nicht oft genug gesagt werden, denn es ist eine absolut zutreffende Beschreibung für die Welt, in der wir gerade leben, vor allem seit der disruptiven Veröffentlichung des auf einem gigantischen Sprachkorpus basierenden KI-Chatbots ChatGPT von der Firma OpenAI. Erst vor wenigen Monaten auf dem Markt erschienen, macht die Software allenthalben Schlagzeilen – angefangen bei ihrer tatsächlich unheimlichen Fähigkeit, »menschlich« zu klingen, und so z. B. eine MBA-Prüfung bestehen zu können, bis hin zu den verstörenden Halluzinationen der Software, in denen sie mal danach trachtet, die Menschheit zu vernichten, mal ihren Nutzern nahelegt, sich scheiden zu lassen. Und genau darin liegt das Problem der Kluft zwischen der Wirklichkeit solcher Systeme und unserer Einschätzung ihrer Fähigkeiten: Mehrheitlich sind wir Opfer von »Amaras Gesetz«.

Kein Ersatz für die Google-Suche

Das besagt: »Wir sind geneigt, die Auswirkungen einer Technologie kurzfristig zu überschätzen, aber langfristig zu unterschätzen.« So beeindruckend ChatGPT auch ist – und ja, es ist wirklich beeindruckend –, bei unseren Tests hat es so oft fehlerhafte Ergebnisse geliefert, dass wir uns nicht darauf verlassen würden. Wobei es seine Fehler – wie jeder gute Taschenspieler – natürlich stets mit maximaler Souveränität präsentierte. Bisweilen lieferte es auch ziemlich allgemein gehaltene Antworten. Es ist so leicht, von einer überzogenen Einschätzung von ChatGPT als der nächsten transformativen Technologie, also dem sprichwörtlichen iPhone-Moment, in eine nachhaltige Enttäuschung abzustürzen. Vieles hängt aber auch vom spezifischen Anwendungsszenario ab: In der Regel verwenden wir neue Werkzeuge erstmal auf dieselbe Weise wie die alten, bis wir merken, dass sie sich grundlegend von den alten unterscheiden und wir sie deshalb anders nutzen müssen. Man sollte ChatGPT nicht einfach als Ersatz für Google betrachten – so geht Microsoft mit seiner ChatGPT-gestützten neuen Bing-KI namens »Sydney« vor. Stattdessen eignen sich Systeme wie ChatGPT viel besser für einen Vorgang des Erkundens, in dem wir in einen Dialog mit der Maschine treten. Dabei geht es weniger um eine Frage und eine »finale« Antwort, bei der man nach Schlüsselwörtern sucht und sich anschließend durch Dutzende von Ergebnissen klickt, sondern darum, gemeinsam mit Hilfe der KI Kommentar für Kommentar und Frage für Frage zu erforschen. Dies deutet auf eine ernst zu nehmende Kampfansage an die derzeitigen Torwächter unseres Informationszeitalters hin.

Googles Mission, »die Informationen der Welt zu organisieren und sie jederzeit für alle zugänglich und nutzbar zu machen«, wird durch die Suchmaschine, das Flaggschiff und Haupteinnahmequelle des Unternehmens, nur teilweise verwirklicht, könnte man argumentieren. Zwar kann man alles und jedes finden, doch bedarf es menschlicher Anstrengungen, um diese Informationen »nutzbar« zu machen. Mit ihrer Fähigkeit, riesige Informationsmengen aufzusaugen und zusammenzufassen, versprechen KIs wie ChatGPT, den letzteren Teil zu lösen. Damit verfügen sie über das Potenzial, die bestehende Ordnung auf den Kopf zu stellen – zumindest was den Bereich der Informationstechnologie betrifft. Und diese Sichtweise streift noch nicht einmal die vielen anderen Möglichkeiten, in denen diese Systeme auftauchen werden. Ob im Kundendienst oder in Informationsmanagementsystemen – wir leben wahrhaftig in interessanten Zeiten. 


Übrigens: Ich habe ChatGPT nach dem Ursprung unseres chinesischen Sprichworts gefragt – und hier können Sie lesen, was ChatGPT zu sagen hatte: Der Satz »Mögest du in interessanten Zeiten leben« wird häufig mit einem chinesischen Fluch in Verbindung gebracht. Jedoch ist sein Ursprung ungewiss, und es gibt keine konkreten Beweise dafür, dass es sich tatsächlich um ein chinesisches Sprichwort bzw. einen Fluch handelt. Die Redensart erlangte im 20. Jahrhundert im Westen Popularität und wurde von zahlreichen Politikern, Schriftstellern und sonstigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verwendet. Die ursprüngliche Urheberschaft und die wahre Bedeutung des Satzes sind jedoch nach wie vor unbekannt.