Zum 20jährigen-Bestehen des ITmagazins hat sich unser langjähriger Kolumnist Pascal Finette gleich mit zwei Themen ausführlich beschäftigt. Herausgekommen ist ein Rückblick in die Welt im Jahr 2002. Und eine Vorhersage in die – mögliche – Welt in 20 Jahren. Da Prognosen über zwei Jahrzehnte jedoch sehr selten valide sind, gibt er uns eine Formel an die Hand, die uns dabei helfen kann, nicht völlig ahnungslos im Jahr 2042 aufzuwachen.

Wir schreiben das Jahr 2002

Soeben erscheint die erste Ausgabe dieses Magazins. Ebay dominiert den E-Commerce-Sektor in Deutschland. Amazon ist kaum mehr als ein Online-Buchhändler. Bis zur Erfindung der als AJAX (Asynchronous JavaScript and XML) bekannten Technologien – der Grundlage für so genannte Rich Web Applications, auch bekannt als Web 2.0 – werden noch drei Jahre vergehen. In zwei Jahren wird Mark Zuckerberg seinen Dienst FaceMash vorstellen, der später in TheFacebook umbenannt werden wird. Microsofts Internet Explorer ist weltweit führend. Mozilla´s Webbrowser Firefox hat in seiner Version 0.1 gerade erst seine ersten Atemzüge getan. Und natürlich wird es noch mehr als fünf Jahre brauchen, bis das iPhone der Weltöffentlichkeit präsentiert wird. Vieles hat sich verändert auf der Welt in diesen letzten zwei Jahrzehnten – und doch ist eine ganze Menge beim Alten geblieben. Vermutlich sieht Ihr heutiger Desktop-Computer oder Laptop dem Gerät, das Sie vor zwanzig Jahren benutzt haben, erstaunlich ähnlich: Okay, er ist ein wenig kleiner und dabei leistungsfähiger (und zwar sehr viel leistungsfähiger) geworden, aber wenn man sich die Betriebssysteme Microsoft Windows und Apple macOS ansieht, sind die Ähnlichkeiten, die zwischen den Systemen von vor 20 Jahren und den heutigen Releases bestehen, enorm. Andererseits wage ich zu bezweifeln, dass viele von uns (wenn überhaupt irgendjemand) damals damit gerechnet hätten, dass eines Tages fast 3 Milliarden Menschen Facebook nutzen würden. Oder dass 2002 geborene Kinder ihre ersten Videos auf  Videokassetten anschauen würden, um dann zu erleben, wie diese Kassetten durch DVDs ersetzt werden, bevor sie auf  YouTube gehen würden, um einen schier endlosen Stream von Online-Videoinhalten zu sehen, um dann schließlich winzige Videoclips im 60-Sekunden-Takt auf TikTok zu konsumieren. 

Wie wird die Welt im Jahr 2042 aussehen? 

Das alles wirft eine höchst interessante Frage auf: Wie werden wohl die nächsten zwanzig Jahre aussehen? Was wird (dann immer noch) weitgehend gleich sein, was wird anders sein als heute, und was ist da noch, was wir überhaupt nicht vorausahnen können? Gefragt, wie er sich für seine Erzählungen die Zukunft vorstelle, antwortete der Science-Fiction-Autor Charles Stross einmal mit der folgenden Formel: Etwa 60 Prozent von allem bleibt weitgehend so wie es ist: Gebäude, Infrastruktur, Menschen und Kultur sind ja schon da. 20 Prozent sind noch nicht da, aber immerhin vorhersehbar – denken wir an im Bau befindliche Architektur, an Soft- und Hardware oder Medikamente, die sich in Entwicklung befinden oder an die Kinder von heute, die in einem Jahrzehnt erwachsene Menschen sein werden. Und dann gibt es da noch einen Anteil von etwa 20 Prozent, der der Kategorie »Wer hat das denn bloß bestellt?« zuzuordnen ist: Covid-19, weltweit rapide um sich greifender Populismus etc.



Es lohnt sich, diesem Gedanken ein wenig nachzugehen, erinnert er doch daran, dass die Zukunft ein Paradoxon darstellt: Sie ist ungeschrieben und dennoch (bis zu einem gewissen Grad) vorhersehbar. Viele von Ihnen agieren mit ihren Unternehmen an der äußersten Grenze dessen, was der heutige Stand der Technik ist (oder zumindest nahe daran). Und daher verfügen wir über einen einzigartigen, wenn auch manchmal etwas verzerrten Blick darauf, was die Zukunft bringen wird. Es ist immens hilfreich, wenn wir uns vor Augen führen, dass viele, viele Dinge (und Verhaltensweisen) sich in einem überschaubaren Zeitraum gar nicht allzu sehr verändern. Um heute von A nach B zu kommen, benutzen wir immer noch Dinge, die sich in ihrer groben Gestalt gar nicht so sehr von den Pferdekutschen vergangener Zeiten unterscheiden – das zum Beispiel meint Charles Stross mit seinen 60 Prozent. 

Die 60-20-20-Formel

Wenn man jedoch genau hinschaut, kann man «die zarten Sprosse von morgen« (wie der Historiker Fernand Braudel es ausdrückte) schon erkennen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich während meines Studiums für die deutsche Apple-Einzelhandelskette Gravis arbeitete, und wie ich damals mit dem Gründer von Gravis, Archibald Horlitz, ein langes Gespräch über die gerade aufkommende mobile Nachrichtenübermittlungstechnologie namens »SMS« hatte. Wenn man zu jener Zeit in der Lage war, über die umständliche Art und Weise, wie man Nachrichten auf einem klobigen Mobiltelefon eintippen musste, sowie über den damals irrsinnig hohen Preis für das Senden (und Empfangen) einer Nachricht hinwegzusehen, dann konnte man am Horizont bereits die Zukunft der mobilen Kommunikation entstehen sehen. Das ist es, was mit den nächsten 20 Prozent gemeint ist. Allerdings gibt es dann noch diese verrückten 20 Prozent von allem, die aus dem Nichts, bzw. für unsere heutige Sicht aus einem toten Winkel, zu kommen scheinen. Dinge, die man einfach nicht erahnen konnte oder die unmöglich zu prognostizieren sind: Viele Stimmen hatten uns zwar erzählt, dass irgendwann eine globale Pandemie über uns hereinbrechen wird – aber niemand konnte genau sagen, wann sie würde und wie das geschehen würde. Da haben Sie Ihre letzten 20 Prozent. Als Führungsverantwortliche müssen wir fest mit beiden Füßen auf dem Boden der ersten 60 Prozent stehen, im Bereich der mittleren 20 Prozent arbeiten und dabei flexibel auf alles reagieren können, was uns die letzten 20 Prozent vor die Füße werfen mögen.

Eine Kolumne von Pascal Finette. Er ist Mitbegründer von be radical, Vorsitzender des waves pace Advisory Board von EY und Mitglied des Digital Advisory Board von Pearson. Seit 2018 schreibt Finette regelmäßig für das ITmagazin bzw. ab sofort für das FI-Magazin.